Tag der Wahrheit für Commercial Crew

Die Crew Dragon steht bereit am Startplatz in Florida - ein neues Zeitalter bricht an! (Quelle: SpaceX)

Am kommenden Mittwoch, dem 27. Mai 2020 – oder ein paar Tage später, je nach Wetter am angepeilten Starttag und allfälligen technischen Problemen in letzter Minute – wird zum ersten Mal überhaupt eine Dragon-Kapsel der US-Weltraumfirma SpaceX zwei NASA-Astronauten ins All und dann zur internationalen Raumstation ISS befördern. Einerseits ist dies erfreulich, denn es bedeutet, dass die USA nach neun langen Jahren, die seit dem letzten Flug des Space Shuttles vergangen sind, wieder die Fähigkeit erlangt haben, Menschen selbständig ins All zu schicken. Anderseits, wenn man diesen Satz ins Jahr 2005 zurück schicken könnte, als das Konzept der „kommerziellen“ Weltraumfahrt zum ersten Mal angedacht würde, wäre dort wohl helles Entsetzen die Folge: warum zum Geier hat das ganze 15 Jahre gedauert!?

Um diese Frage im Detail zu beantworten, müsste man jetzt weit ausholen, aber grundsätzlich lässt sich sagen: weil der Schatten der Mondlandung die NASA immer noch nicht loslässt, weil Raumfahrt in den USA ein hochpolitisches Thema ist, und weil besatzte Raumfahrt technisch hochkomplex ist. Die politische Landschaft der besatzten Raumfahrt sah 2005 völlig anders aus: der Space Shuttle war gegrounded, weil zwei Jahre zuvor die Columbia mit sieben Astronauten verunglückt war, die ISS war erst im Aufbau, und US-Präsident George W. Bush hatte ein Jahr zuvor die „Vision for Space Exploration“ (VSE) vorgestellt, die den Flug zurück zum Mond, gefolgt vom Flug zum Mars vorsah. In diesem Umfeld wollte die NASA einen neuen, „kommerziellen“ Ansatz ausprobieren, um die ISS kostengünstig mit Fracht – und eventuell Besatzungen – zu versorgen. Die NASA, so die Idee, könnte sich dann auf die neuen Ziele jenseits des Erdorbits konzentrieren, ohne das ISS-Programm vorzeitig abzuwürgen.

„Kommerziell“ heisst in diesem Kontext: die NASA sagt, welche Services sie auf dem Markt kaufen will (in diesem Fall: Versorgung der ISS mit einer vordefinierten Menge Fracht) und überlässt es kommerziellen (also auf eigene Rechnung arbeitenden) Raumfahrt-Firmen, entsprechende Angebote zu machen und die dafür notwendige Technologie zu entwickeln. Die NASA redet bei der Entwicklung nicht drein, stellt aber ihr Wissen und ihre Erfahrung zur Verfügung. Sie bezahlt einen Fixpreis für den Service, den sie den Firmen aber in Tranchen auszahlt, jeweils nach Erreichen gewisser technologischer und regulatorischer Meilensteine. Dieser kommerzielle Ansatz ist komplett verschieden zum „Cost-Plus“-Modell, das die NASA seit dem Wettlauf zum Mond eingesetzt hat: dabei bezahlt sie die Entwicklung und den Bau der Raumfahrzeuge, und ersetzt den Raumfahrtfirmen die kompletten Kosten, plus einen Bonus.

Das „Cost-Plus“-Modell half damals den USA, den Wettlauf zum Mond zu gewinnen, weil die beteiligten Firmen wussten, dass der Staat die vollen Entwicklungskosten tragen und sie trotzdem einen finanziellen Gewinn aus dem Projekt ziehen würden. Damit konnten alle Kräfte mobilisiert werden – es funktionierte, weil die Mondlandung einen klar definierten Zeithorizont hatte. Doch nach der Mondlandung behielt die NASA das Modell bei, etwa bei der Entwicklung des Space Shuttles. In der Folge liefen die Kosten komplett aus dem Ruder – kein Wunder, denn wenn der Endpunkt des Programms offen ist (im Gegensatz zur Mondlandung, die nach der Vorgabe Kennedys am „bis zum Ende des Jahrzehnts“ stattfinden sollte), gibt es für die beteiligten Firmen keinen Grund, die Entwicklung wirklich voranzutreiben: je länger die Entwicklung dauert, desto mehr profitieren sie.

Natürlich lobbyierten die damals beteiligten Raumfahrt-Firmen (von denen heute die meisten entweder in Boeing oder in Lockheed Martin integriert sind) wie verrückt beim US-Kongress, um dieses für sie lukrative Modell beizubehalten. Schliesslich, so argumentierten sie, betrieben sie hier Spitzenforschung, die der Staat selbst zu bezahlen habe. Und natürlich generierten die teuren Programme zahlreiche Arbeitsplätze, die geschickt über die politische Landkarte verteilt wurde, um sich so die Unterstützung von Mehrheiten (meist quer durch die Parteilandschaft) im Kongress zu sichern. Auf dem Höhepunkt des Shuttle-Programms arbeiteten rund 30’000 Menschen in der „Shuttle Workforce“. Weltraumfahrt war und blieb teuer, weil sie es sein musste, um die Geldflüsse aufrecht zu erhalten. Bush’s VSE sollte sich, nach Wunsch dieser Firmen und Politiker, nahtlos in diese etablierte Landschaft einbetten und dort weitermachen, wo der Shuttle bald aufhören würde.

In diesem politischen Umfeld war der Vorschlag der NASA, doch mal zu versuchen, ob man vielleicht Raumfahrt-Services auch über Fixkosten einkaufen könnte, ein Stich ins Wespennest. Der Kongress wehrte sich von Anfang an gegen die kommerzielle Raumfahrt, egal ob dabei Fracht oder Besatzungen transportiert werden sollten. Zwar wählte die NASA 2006 zwei Gewinner aus: SpaceX (mit der Falcon 9-Rakete und der Dragon-Kapsel) und Rocketplane Kistler (mit der K-1 Rakete/Kapsel), wobei letztere im darauf folgenden Jahr durch Orbital Sciences (mit der Antares-Rakete und Cygnus-Kapsel) ersetzt wurde. Doch Jahr für Jahr schrieben die Regierungen Bush und Obama grosse Beträge für die kommerzielle Raumfahrt ins NASA-Budget, die dann ebenso regelmässig vom Kongress wieder gekürzt wurden. Doch die Budgetkürzungen zeigten die gewünschte Wirkung: es ergaben sich immer wieder Verzögerungen, wobei die finanziellen Probleme hier ebenso beitrugen wie technologische Probleme in der Entwicklung. Statt bis 2009, wie ursprünglich geplant, dauerte es bis 2012, bis die erste Fracht-Dragon die ISS erreichte (2013 für die erste Cygnus).

Als 2010 eine vom damaligen US-Präsidenten Barack Obama eingesetzte Komission empfiehl, die VSE – die zu diesem Zeitpunkt bereits wie zu erwarten (Stichwort „Cost-Plus“) hinter dem Zeitplan und über dem Budget war – abzubrechen und die künftige Raumfahrt-Politik ganz auf das „kommerzielle“ Modell umzustellen, um Kosten zu sparen und die verfügbaren Gelder effizienter einzusetzen, brach im US-Kongress die Hölle aus. Am Ende wurde ein Gesetz verabschiedet, das exakt vorschrieb, wie die künftige Schwerlastrakete der USA – genannt SLS, gebaut von Boeing – auszusehen habe (Überraschung! Sie besteht vorwiegend aus Technologie aus der Space Shuttle-Zeit…). Weiter hielt es fest, dass die USA weiterhin eine „eigene“ Raumkapsel – genannt Orion, gebaut von Lockheed Martin – bauen würde. Beides nach dem Cost-Plus-Modell, selbstverständlich.

Doch die ersten Erfolge der kommerziellen Firmen hatten bereits ihre Wirkung hinterlassen: das kommerzielle Programm wurde beibehalten und sogar weiterentwickelt: nun hatte die NASA neu ein „Commercial Crew Development“ (CCDev) Programm, das in mehreren Stufen die technologischen Grundlagen für eine spätere Ausschreibung des eigentlichen Fixkosten-Auftrags legen sollte. Mehrere kommerzielle Firmen, darunter Neueinsteiger wie Jeff Bezos‘ Blue Origin, etablierte Newspace-Akteure wie SpaceX oder Sierra Nevada, und Raumfahrt-Dinosaurier wie Boeing und Lockheed Martin erhielten wiederholt Beiträge in der Höhe von bis zu einigen 100 Millionen Dollar, um ihre Systeme auf die eigentliche Ausschreibung vorzubereiten. Auch hier tickten die Uhren aber langsamer als geplant: der Kongress finanzierte Commercial Crew weiterhin nicht in dem Umfang, wie die Gelder beantragt wurden, mit der Folge, dass diese Zwischenschritte viel mehr Zeit brauchten.

Das Ergebnis der eigentlichen Ausschreibung wurde im September 2014 präsentiert: demnach gewann Boeing einen Auftrag im Wert von 4.2 Milliarden Dollar (die CST-100 / Spaceliner genannte Kapsel, die auf einer Atlas V-Rakete starten soll), SpaceX einen Auftrag im Wert von 2.6 Milliarden Dollar (die Crew Dragon genannte Kapsel, eine Weiterentwicklung der Fracht-Dragon, die beide auf einer Falcon 9 starten sollen). Ein dritter Bewerber, Sierra Nevada mit dem Dreamchaser-Mini-Shuttle, ging leer aus (gewann aber später einen Fracht-Vertrag für die künftige Versorgung der ISS). Heruntergerechnet auf die einzelnen Astronauten-Sitze heisst das, dass ein Sitz in einer Crew Dragon ca. 55 Millionen Dollar kostet, einer in einem Spaceliner ca. 90 Millionen Dollar. Bezeichnend: nur bei SpaceX ist das eine klare Verbesserung gegenüber den Kosten für die Sitze in den russischen Sojus-Kapseln, die die NASA in der Zeit seit dem Ende des Space Shuttles immer wieder neu zukaufen musste, um den Zugang amerikanischer Astronauten zur ISS nicht zu verlieren.

In den letzten Jahren hat sich nun ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Boeing und SpaceX entwickelt, wer denn nun zuerst wieder Astronauten zur ISS schicken – und die von der letzten Shuttle-Crew speziell für diesen Zweck zurückgelassen Flagge zurückholen – kann. Letztes Jahr hatten beide Kapseln ihren ersten Testflug (ohne Besatzung). Jener von SpaceX verlief nahezu problemlos, während jener von Boeing an zwei Zeitpunkten fast katastrophal ausging, das heisst, mit dem Verlust der Kapsel hätte enden können. Seit diesem Testflug – den Boeing nun auch auf Anweisung der NASA (oder „freiwillig“, nach eigener Darstellung) wiederholen muss – war mehr oder weniger klar, dass der erste besatzte Raumflug des Commercial Crew Programms jener von SpaceX sein würde. Am Mittwoch ist es nun also – endlich, ist man versucht zu sagen – soweit. Nun muss sich zeigen, dass das kommerzielle Modell nicht nur bei Fracht funktioniert, sondern auch bei Besatzungen.

Wenn dies zutrifft, ist das Ende des „Cost-Plus“-Modells absehbar – und damit auch das Ende des SLS, sicher in seiner heutigen Form. Artemis, das neue Mondprogramm der USA, sieht das SLS mittlerweile nur noch in einer einzigen Rolle: die Orion-Kapsel mit den Astronauten in die Mondumlaufbahn befördern – alles andere wird mit kommerziellen Starts zu Fixkosten gemacht. Auch international gibt es Folgen: mit dem Ende der Abhängigkeit der USA von Russland in der besatzten Raumfahrt versiegt nun auch eine der letzten grossen ausländischen Einnahmequellen des besatzten russischen Raumfahrtprogramms – die nächsten Schritte in Richtung Irrelevanz scheinen (leider) vorprogrammiert. Für SpaceX hingegen hat sich die Entwicklung der Crew Dragon bereits gelohnt, über den NASA-Auftrag hinaus: bereits nächstes Jahr soll eine Crew Dragon mit vier Weltraum-Touristen und einem SpaceX-Astronauten in eine elliptische Erdumlaufbahn fliegen. Zudem hat die Firma einen Vertrag mit Axiom Space unterzeichnet, einer Firma, welche von der NASA die Erlaubnis bekommen hat, die ISS mit eigenen, kommerziellen Modulen (mit Schwerpunktbereichen Materialforschung und Tourismus) zu erweitern. Die Crew Dragon soll Astronauten und Touristen zum Axiom-Modul bringen, sobald dieses installiert ist. Auch eine Mondumrundung mit einer Crew Dragon auf einer Falcon Heavy war ursprünglich geplant, doch hier hat sich der bezahlende Milliardär, Yusaku Maezawa, ein Upgrade auf eine Starship-Mission sichern können.

Und doch: 55 Millionen Dollar pro Sitz ist nur ein kleiner Fortschritt gegenüber der bisherigen Situation. Damit beginnt man keine Revolution. Für die wirklich revolutionären Entwicklungen blickt man gegenwärtig besser nach Boca Chica.

[Update 30.5.2020: Nach der anfänglichen Verschiebung wegen schlechtem Wetter ist der Start am Samstag, 30. Mai 2020 dann doch noch geglückt und die beiden Astronauten haben die ISS sicher erreicht. Eine Rückkehr zur Erde ist erst in ca. 4 Monaten geplant – dann erst wird sich also zeigen, ob SpaceX wirklich den ganzen Zyklus vom sicheren Start bis zur sicheren Landung im Griff hat.]

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