Nach der Demontage von Plutos Planetenstatus glaube man wohl, die Sache mit der Suche nach dem „zehnten Planeten“ jenseits des Plutos sei nun ein für alle Mal Geschichte. Verschiedene neue Simulationen zeigen nun aber, dass man um mindestens einen solchen Planeten fast nicht herum kommt…
Doch als Anfang der Neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts entdeckt wurde, dass sich jenseits der Neptunbahn ein ganzer Gürtel von kleineren und grösseren Objekten versteckte, und Pluto nichts weiter war als eines seiner grössten und hellsten Objekte, begann ein Umdenken. Dazu kam, dass die Theorien zur Planetenentstehung komplett über den Haufen geworfen wurden, als Schweizer Astronomen 1995 einen Planeten um den Stern 51 Pegasi entdeckten: eine Jupitergrosse Welt, die ihren Stern in einem zwanzigstel des Erdabstands umkreiste, das war in den bisherigen Modellen nicht vorgesehen gewesen. So kam es, dass neue Planetenbildungsmodelle sowie die Entdeckung des Kuipergürtels den Weg ebneten für unbekannte Planeten jenseits der Neptunbahn.
Das geheimnissvolle „Kuiper-Cliff“
Weiter fiel den Astronomen auf, dass der Kuipergürtel verschiedene Gruppen von Objekten (sogenannte „Populationen“) enthielt. Zunächst einmal eine „klassiche Population“, eine Gruppe von Objekten mit nahezu kreisrunden Bahnen und verschiedenen Bahnneigungswinkeln. Eine „resonante Population“, Objekte, deren Umlaufzeiten zu Neptun in einem niedrigen, ganzzahligen Verhältnis stehen (dazu gehört auch Pluto: er umkreist die Sonne zwei Mal, während Neptun sie drei Mal umkreist). Eine „gestreute Population“ von Objekten, die in der Vergangenheit eine nahe Begegnung mit Neptun hatten und von diesem in eine weitläufige Bahn geschleudert wurden. Dazu kommt noch eine mysteriöse „losgelöste Population“, deren Bahnen zwar ähnlich weitläufig sind wie jene der „gestreuten Population“, aber gleichzeitig der Sonne niemals nahe genug kommen, als dass sie von Neptun auf diese Bahn hätten geschleudert werden können. Zu dieser Population gehört auch der Planetoid „Sedna“, der etwa 11000 Jahre braucht um die Sonne einmal zu umkreisen, ihr aber nie näher als 90 Astronomische Einheiten kommt – weit weg von Neptun uns seinen 30 Astronomischen Einheiten. Auch für die Entstehung der „losgelösten Population“ wurden vorbeiziehende Sterne herbei gezogen. Doch die Schwierigkeiten sind offensichtlich: Ein Modell, das eine Eigenschaft des Kuipergürtels reproduziert, muss auch alle anderen Reproduzieren. Während ein naher Vorbeizug eines Sterns zwar das Kuiper-Cliff sowie einen Teil der „losgelösten Population“ erklären mag, so wiederspricht es sich mit der Existenz der anderen Populationen.
Der Kuipergürtel birgt noch weitere Rätsel: so enthält er eigentlich viel zu wenige Objekte. Wie auch der Asteroidengürtel des Sonnensystems sollte er eigentlich rund 100 mal massiver sein, als er tatsächlich ist, wenn man die üblichen Planetenentstehungsmodelle hinzu zieht. Wo ist der Grossteil der Masse abgeblieben?
Migration und ein System am Rand des Chaos
Die Entdeckung des seltsamen Planeten bei 51 Pegasi führte zu ganz neuen Planetenentstehungsmodellen. Bisher hatte man gedacht, Planeten würden an dem Ort entstehen, an dem sie auch noch später stehen, wobei sie weiter Aussen in der Scheibe, wo es kalt ist, in der Lage sind, viel leichtes Wasserstoffgas zu sammeln, und weiter Innen, wo die junge Sonne die Scheibe heizt und es deshalb heiss ist, bloss kleine Felsplaneten entstehen können. Doch ein Gasplanet, so nahe an seinem Stern dran? Man war sich schnell einig, dass der Planet praktisch nicht vor Ort entstanden sein kann (es gibt aber durchaus eine Minderheit an Wissenschaftlern, die an einem solchen Modell festhält). Das heisst, die Planeten (heute sind weit über hundert dieser „Hot Jupiters“ bekannt) mussten weiter draussen entstanden und nach innen gewandert, „migriert“ sein. Und diese Migration machte dem einfachen, alten Modell endgültig den Garaus. Denn wenn Planeten migrieren können, können sie sich nahe kommen, kollidieren oder sich gegenseitig aus der Bahn schleudern. Migration musste zudem eine Ursache haben, und immer bessere Computer erlaubten immer bessere Simulationen der Verhältnisse im jungen Sonnensystem, so dass immer mehr Parameter einbezogen werden konnten. Doch plötzlich war es keine leichte Sache mehr, überhaupt grössere Planeten bilden zu können. Am Ende kam dann doch ein neues Modell der Planetenbildung heraus, das sich bis heute bewährt hat.
Aber Migration von Planeten gab es durchaus auch im frühen Sonnensystem: so vermutet man heute, dass das System der vier Gasriesen einst kompakter war: Jupiter bis Neptun drängten sich auf dem Gebiet zwischen 5 und 15 Astronomischen Einheiten zusammen. Jupiter wanderte langsam nach Innen, bis er in eine Resonanz mit Saturn eintrat, was dazu führte, dass das kompakte System auseinanderfiel und Neptun an seinen heutigen Platz wanderte (vermutlich hat er dabei sogar Uranus überholt, das heisst, Uranus entstand als achter, endete aber als siebter Planet des Sonnensystems). Das Auseinanderfallen des frühen Systems (rund 700 Millionen Jahre nach der Entstehung des Sonnensystems) führte im Inneren Sonnensystem (unter anderem auf der Erde und dem Mond) zu einem Asteroidenregen, der unter Geologen als das „späte, schwere Bombardement“ bekannt ist. Dieses Migrationsszenario wird auch als das „Nizza-Modell“ bezeichnet.
Der neunte Planet
Doch was geschah mit den Protoplaneten, die sich jenseits der Gasriesenzone gebildet hatten? Diese wurden durch die Migration Neptuns ebenfalls nach aussen gedrängt. Eine neue wissenschaftliche Arbeit (siehe Arxiv.org-Link am Ende des Artikels) zeigt nun, dass die Wanderung eines solchen Protoplaneten, der irgendwo jenseits von 15 Astronomischen Einheiten entstand und vom migrierenden Neptun immer weiter nach aussen gedrängt wurde, die beobachtete Struktur des Kuipergürtels, all seine Populationen, das „Kuiper-Cliff“ sowie die Massenverarmung des Kuipergürtels erklären könnte. Sogar die Existenz der „losgelösten Population“ geht zwangslos aus dem Szenario hervor. Die beste Übereinstimmung zwischen Szenario und Realität wurden für folgende Werte erreicht: Der Planet hat eine Masse irgendwo zwischen 0.3 und 0.5 Erdmassen (3 bis 5 Marsmassen), und er zieht heute seine Bahn irgendwo im Bereich von 100 Astronomischen Einheiten, kommt der Sonne aber nie näher als 80 Astronomische Einheiten. Seine Bahn muss zwischen 20 und 40 Grad gegen die Ekliptik geneigt sein. Da er sehr viel mehr Eise enthält als ein vergleichbarer terrestrischer Planet, wäre seine Dichte geringer und er damit auch grösser: sein vermuteter Durchmesser liegt bei 10000 bis 16000 km (Erde zum Vergleich: 12756 km). Ein solcher Planet wäre mit heutigen Teleskopen entdeckbar – wenn man nur wüsste, wo man hinschauen muss. Die Simulationen geben da leider keinerlei Hinweise, aber die Chancen, dass der Planet in den nächsten Jahren bei den geplanten, ultrasensitiven Himmelsdurchmusterungen auftaucht, stehen recht gut. Dieses Objekt würde übrigens auch tatsächlich die neue Planeten-Definition der IAU (Internationale Astronomische Union) erfüllen: der Umstand, dass er in der Lage ist, den Kuipergürtel bei 48 Astronomischen Einheiten abzuschneiden und das „Kuiper-Cliff“ zu erzeugen, zeigt, dass er seine Bahn gravitativ dominiert.
Die Halo-Planeten
Doch was geschah mit den hunderten von Protoplaneten, die „aus dem System geschleudert wurden“, wie ich oben schrieb? Einige mögen von Jupiter oder einem anderen Gasriesen tatsächlich auf eine Geschwindigkeit beschleunigt worden sein, die es ihnen erlaubte, das Sonnensystem ganz zu verlassen – diese Objekte treiben jetzt seit Jahrmilliarden irgendwo in den Tiefen der Galaxis. Doch eine grosse Anzahl dieser Protoplaneten bekamen zwar einen ordentlichen Kick, der nichtsdestotrotz zu klein war, um sie aus dem System zu werfen: sie kamen auf langgezogene, weite Bahnen, die sie in periodischen Abständen von einigen tausend bis hunderttausend Jahren ins innere Sonnensystem zurückführten. Die Protoplaneten wurden Teil der gigantischen „Oort-Wolke“, welche die „Putzaktionen“ der grossen Planeten im inneren Sonnensystem bereits geschaffen hatten. Diese Wolke, die das Sonnensystem in einer Entfernung von 1000 bis 100000 Astronomischen Einheiten kugelförmig umgibt, ist noch heute das Reservoir der langperiodischen Kometen.
Die Bahnen jener Protoplaneten, die sich noch heute dort draussen befinden, müssen irgendwann durch vorbeiziehende Sterne, galaktische Gezeiten und Begegnungen untereinander „angehoben“ worden sein, so dass sie den massiven Gasriesen des inneren Planetensystems nicht mehr in die Quere kamen (diejenigen, bei denen dies nicht der Fall war, begegneten Jupiter wieder und wurden spätestens dann doch noch in den interstellaren Raum geschleudert). Dort draussen sind sie bis heute geblieben: Protoplaneten mit einer Masse zwischen jener des Mondes und einigen Marsmassen (vielleicht sind auch einige schwerere Exemplare darunter). Ihre Bahnen liegen nicht mehr in der Ekliptik (die Ebene der Bahnen der acht heute bekannten Planeten), sondern sind kugelförmig um die Sonne verteilt, weshalb man sie als Halo-Planeten bezeichnen könnte.
Neuere Untersuchungen zeigen auch, dass einige der Neptun-Migrationsmodelle, und insbesondere der vermutete Platztausch von Uranus und Neptun, besser funktionieren, wenn man noch zumindest einen weiteren Gasplaneten von Neptunmasse annimmt, der im frühen Sonnensystem ebenfalls seine Bahn um die Sonne zog und dann in den interstellaren Raum – oder in die Oortsche Wolke – geschleudert wurde.
Zum Schluss: Nemesis
Was können wir also in den Weiten des äussersten Sonnensystems erwarten? Wenn wir Glück haben, mindestens einen weiteren Planeten direkt jenseits des Kuipergürtels, einige dutzend bis hundert Halo-Planeten (darunter vielleicht auch der eine oder andere kleine Gasriese), und als Bonus vielleicht noch einen Braunen Zwerg.
Arbeit auf Arxiv.org zum potentiellen Planeten jenseits des Kuipergürtels
Artikel zum vermuteten „Platzwechsel“ von Uranus und Neptun
Das Szenario zu einem weiteren Gasriesen, der möglicherweise in die Oortsche Wolke geschleudert wurde, wird hier erwähnt
NewScientist-Artikel über Halo-Planeten (kostenpflichtig)
Wie dichtgepackte Planetensysteme auseinanderfallen
Geschätzte Massenobergrenze für Nemesis
wenn du schon so gute Tipps/Verweise hast (s.o.), dann bitte auch mal auf Deustch; danke
Vor kurzem haben Astronomen, mit den neuen Infrarot-Weltraumteleskop Spitzer, 14 Braune Zwerge entdeckt. Zusammen mit dem vor kurzem gestarteten Projekt WISE, hoffen die Astronomen 100te von diesen Objekten aufzuspüren. Vielleicht finden sie einen Braunen Zwerg, der näher ist als Proxima Centauri, oder der unsere Sonne, in einem gewissen Abstand, umkreist. Wenn dem nicht so sei, dann ist die Wahrscheinlichkeit für ein Nemesis sehr gering.
Eine neue Arbeit wertet das vorhandene Datenmaterial erneut aus und kommt zum Schluss, dass ein Planet von 1-4 Jupitermassen die Beobachtungen etwa gleich gut erklären könnte (vom statistischen Standpunkt aus etwa gleich wahrscheinlich ist) wie eine zufällige Fluktuation der beobachteten Parameter. Die Chance beträgt zur Zeit also immerhin etwa 50%, dass es einen solchen Planeten gibt.
http://www.spaceref.com/news/viewsr.html?pid=33991
arxiv.org/abs/1004.4584
Einmal super erklärt …
Und Merkur… Ja, wenn auch nicht notwendigerweise im inneren Bereich der Scheibe, wo die terrestrischen Planeten heute kreisen, sondern vor allem weiter draussen, wo jetzt die Gasriesen zu finden sind. \“Erdähnlich\“ heisst in diesem Fall nur, dass es keine Gasriesen waren, sondern Himmelskörper auf vorwiegend festen Materialien wie Gestein und Wassereis (man sollte sich also eher so was wie einen übergrossen Titan (Saturnmond) vorstellen als einen Felsplaneten wie die Erde).
Wenn ich das richtig rauslas, ist die Wahrsheinlichkeit sehr groß, dass es mehrere erdähnliche planeten gab. Bis auf die Erde, Mars und Venus sind alle rausgeschleudert worden?
Ich verfolge astronomische Neuigkeiten extrem aufmerksam, aber dass russische Astronomen \“Nibiru\“ entdeckt hätten, habe ich noch nirgends gelesen – Quelle? Wie in dem entsprechenden Artikel auf dieser Seite (\“final-frontier.ch/Nibiru\“) erwähnt, kann man einen grossen Planeten auf einer Umlaufbahn, die jene der Erde im Jahr 2012 kreuzen würde, völlig ausschliessen, weil dieser Planet längst sichtbar sein müsste (je nach Grösse sogar von blossem Auge!!!) – aber nicht ist. Insofern ja, es ist nur heisse Luft.
In diesem Artikel geht es um Planeten, die die Sonne JENSEITS des Kuipergürtels umkreisen, das heisst, sie kommen der Sonne niemals näher als vielleicht 50 Astronomische Einheiten (= Abstand Erde – Sonne). Mit Nibiru hat das überhaupt nichts zu tun.
Ich hoffe jemand wird nochmal aufmerksam auf meinen post obwohl dieser 5 Monate nach dem letzten geschrieben wurde.
Ich hab im Internet jetzt überall diesen Pseudowissenschaftlichen Krams über den Planeten \“Nibiru\“ gefunden, der angeblich von den Russen entdeckt wurde…
Die Religiösen fanatiker behaupten, dass er die Umlaufbahn der Erde im Jahre 2012 kreuzen soll. Was mich mal interessieren würde ist ob da ein funken Wahrheit dran ist oder wirklich nur alles heiße Luft ist um ein paar klicks bei youtube zu bekommen. Gibt es eine Internetseite von russischen Astronomen mit Bildern die das hinterlegen oder andere seriöse seiten oder nur die Seiten der gebrüder unseriös…?
Was den Braunen Zwerg angeht: Ich halte es für sehr unwarscheinlich, dass sich derart massive \“Staubknoten\“ soweit draußen bilden können, ohne von Oort-Objekten, oder der Gravi eines vorbeiziehenden Sterns \“zerrissen\“ worden zu sein.
wahrschnlicher finde ich dagegen den Planeten.
wenn man bedenkt, dass er aufgrund seiner entfernung zur sonne sehr lange für einen umlauf braucht und sich das Kuiper-Cliff trotzdem _gleichmäßig_ am Gürtel entlangzieht, halte ich es sogar für sehr wahrscheinlich, dass es sich dabei um _mehrere_ Planeten handelt.
spannend, absolut spannend
danke für diesen grandiosen Artikel