New Glenn – die Rakete, mit der Blue Origin erwachsen wird

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Die New Glenn, Blue Origins erste orbitale Rakete (künstlerische Darstellung; Quelle: Blue Origin)

Kurz nach der Jahrtausendwende gründete ein reicher Amerikaner eine private Raumfahrtfirma, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Kosten der Weltraumfahrt drastisch zu senken, so dass dereinst Millionen Menschen im Weltraum leben und arbeiten können. Nein, die Rede ist für einmal nicht von Elon Musk, sondern von Jeff Bezos, dem Gründer und Besitzer von Amazon, und seiner Firma Blue Origin. Diese im Jahr 2000 gegründete Firma ist tatsächlich zwei Jahre älter als Elon Musks im Jahr 2002 gegründete, und sehr viel bekanntere Firma SpaceX.

Das Motto von Blue Origin lautet „Gradatim Ferociter“, was mit „Schritt für Schritt, ungestüm“ übersetzt werden kann. Die Idee dahinter ist, dass die Firma sich Schritt für Schritt an ihre hochgesteckten Ziele herantastet, ohne Zeitdruck und mit fast unerschöpflichen finanziellen Mitteln ausgestattet. Chef Jeff Bezos ist der reichste Mensch der Welt – nach eigenen Angaben verkauft er jedes Jahr Amazon-Aktien im Wert von ca. einer Milliarde US-Dollar, und steckt den Ertrag in Blue Origin. Obwohl man jetzt sagen könnte, dass dies in den letzten 18 Jahren offenbar zu weit weniger Ergebnissen geführt hat als bei SpaceX, hat Blue Origin doch ein enormes Potential. Warum?

Neben SpaceX ist Blue Origin die einzige Firma, die künftig ganz auf Wiederverwendung von Raketenstufen setzt. Weder die geplanten russischen Raketen (z.B. die Angara), noch die künftige Vulcan-Rakete der United Launch Alliance (ULA, ein Konsortium zwischen Lockheed Martin und Boeing) welche die heutigen Atlas- und Delta-Raketen ablösen soll, noch die künftige europäische Rakete Ariane 6 werden wiederverwendbar sein (einige dieser Konzepte sollen zu einem späteren Zeitpunkt – vielleicht – einzelne wiederverwendbare Elemente aufweisen).

Einzig in China wird die Möglichkeit der Wiederverwendung künftiger Raketen ernst genommen – und bereits erste Hardware getestet. Erfolgreiche, schnelle und einfache Wiederverwendung einer Rakete hat das Potential, die Startkosten drastisch zu senken bzw. die Gewinnmargen der Betreiber gegenüber der Konkurrenz zu erhöhen. In den kommenden Jahren sollen mehrere gigantische Satellitenkonstellationen (Starlink von SpaceX; die Konstellationen von OneWeb und Telesat) mit insgesamt tausenden von Satelliten gestartet werden – ein ideales erstes Anwendungsfeld für diese neuartigen Raketen (Update 31.01.19: Blue Origin wird damit beauftragt, die Telesat-Satelliten starten).

Als Blue Origin im Jahr 2000 mit der Entwicklung von wiederverwendbarer Raketentechnologie begann, haben sie zunächst die „Goddard“ entwickelt, ein kleines, bulliges Fluggefährt, das vertikal startete und wieder landete. Darauf folgte „New Shephard“, eine wiederverwendbare Rakete (von ca. 12 m Länge), deren einziges Triebwerk (das sogenannte BE-3) mit flüssigem Wasserstoff (LN2) und flüssigem Sauerstoff (LOX) betrieben wird. Auch New Shephard startet und landet vertikal. Auf ihrer Spitze trägt die Rakete eine kleine Kapsel mit grossen Fenstern, die dereinst Weltraumtouristen befördern soll.

Mit „Weltraum“ ist hier aber „nur“ eine Höhe von 100 km gemeint – New Shephard ist zu flein, um aus eigener Kraft eine Erdumlaufbahn (einen Orbit, mit einer Geschwindigkeit von 7.7 km/s) zu erreichen, und kann deshalb auch keine Satelliten transportieren. Kurz vor Ende des gemeinsamen Aufstiegs trennt sich die Raketenstufe von der Kapsel und landet darauf selbständig. Die Kapsel steigt weiter in den Weltraum auf, fällt dann wieder zurück in die Atmosphäre, und landet schliesslich sanft an Fallschirmen (im Notfall kann ein kleiner Raketenmotor die Kapsel von der New Shephard trennen).

Ein solcher Flug sollte den sechs Touristen etwa vier Minuten Schwerelosigkeit – und eine grandiose Aussicht – bescheren. Erste Testflüge mit Menschen (Testpiloten) sind für später dieses Jahr geplant, Touristen sollen bald darauf folgen – der Preis für einen solchen Flug ist aber noch nicht festgelegt, es wird aber vermutet, dass er im Bereich von einigen 100’000 US-Dollar liegen wird. Damit wird Blue Origin nach fast zwei Jahrzehnten und etlichen Milliarden US-Dollar Ausgaben zum ersten Mal „echte“ – wenn auch wohl bescheidene – Einkünfte ausweisen können.

Der langfristig wichtigste Entwicklungsschritt für Blue Origin ist aber mit Sicherheit der nächste: die Entwicklung einer „richtigen“, das heisst, orbitalen Rakete. Diese Rakete wird „New Glenn“ genannt. Die Namen der Raketen sind Anspielungen auf ihre Funktion und die Geschichte der Raketentechnik: (Robert) Goddard war ein Raketenpionier, (Alan) Shephard der erste US-Amerikaner im Weltraum (allerdings stieg er nicht in den Orbit), und (John) Glenn der erste US-Amerikaner im Orbit. Tatsächlich hat Jeff Bezos bereits angedeutet, dass die nächste Rakete nach der „New Glenn“ die „New Armstrong“ sein wird – eine klare Anspielung auf dereinst geplante Mondflüge…

Doch bereits die New Glenn ist, verglichen mit anderen Raketen, die heute im Einsatz sind, ein veritables Monster. Bei über 100 Meter Länge und einem Durchmesser von 7 Metern wird sie die grösste Rakete im weltweiten kommerziellen Einsatz sein (zumindest bis die SpaceX BFR bzw. „Super Heavy Starship“ zum ersten Mal startet). Ihre Dimensionen reichen an jene der Saturn V Rakete heran (111 m Länge, 10 m Durchmesser), die einst die US-Astronauten zum Mond brachte. Ihre Nutzlast in einen tiefen Erdorbit beträgt ganze 45 Tonnen – das ist gut das doppelte der Falcon 9 von SpaceX, und im selben Bereich wie die Schwerlastrakete Falcon Heavy.

Ein Grund für die enormen Dimensionen ist der Treibstoff: die erste Stufe (oder der „Booster“) der New Glenn wird von sieben BE-4 Triebwerken angetrieben (je 2400 kN Schub), welche mit flüssigem Sauerstoff und flüssigem Erdgas (LNG) betrieben werden. LNG hat eine deutlich kleinere Dichte im Vergleich zum Raketen-Kerosin (RP1), das z.B. bei der Falcon 9 zum Einsatz kommt – entsprechend gross müssen die Tanks dimensioniert werden. Die zweite Stufe wird von zwei BE-3U Triebwerken (zusammen 1060 kN Schub) betrieben, einer Version des BE-3-Triebwerks (das bei der New Shephard zum Einsatz kommt) welche für den Einsatz in einer Raketenoberstufe optimiert wurde. Der Treibstoff auf der Oberstufe besteht deshalb wie bei der New Shephard aus LN2/LOX.

Wasserstoff auf der Oberstufe ist ideal für Raketen: da er einen höheren spezifischen Impuls liefert (mehr Schub pro kg Treibstoff), ist die Oberstufe der New Glenn deutlich effizienter und „mächtiger“ im Vergleich zur RP1-betriebenen Oberstufe der Falcon Familie. Die New Glenn ist damit besonders gut darin, hohe Orbits zu erreichen (oder auch für Flüge zum Mond und anderen Planeten). Im Gegenzug dürfte die New Glenn wegen der unterschiedlichen Treibstoffe und Triebwerke teurer im Bau und in der Startvorbereitung sein, im Vergleich zur Falcon Familie.

Während die Oberstufe jedes Mal weggeworfen wird, ist die erste Stufe der New Glenn vollständig wiederverwendbar. Nachdem sie die Oberstufe auf die nötige Geschwindigkeit beschleunigt hat, trennt sie sich ab, feuert ihre Triebwerke in Flugrichtung um vor dem Atmosphäreneintritt Geschwindigkeit abzubauen. Zwei seitliche Stummelflügel (sogenannte „Strakes“) erlauben eine Steuerung und ein gewisses „Gleiten“ in der Luft. Schliesslich fährt die Rakete sechs Landebeine aus ihrer Heck-Sektion aus und landet auf einem fahrenden Schiff weit draussen im Ozean – ähnlich wie das SpaceX mit der Falcon 9-Erststufe macht. Das Schiff fährt danach mit der knapp 60 Metern hohen Stufe zurück zum Hafen, wo die Stufe untersucht und für den nächsten Flug vorbereitet wird.

Blue Origin entwickelt die New Glenn nun bereits seit einigen Jahren – zuletzt wurde die Fabrik in Cape Canaveral, in der sie gebaut werden soll, fertig gestellt. Der erste Flug ist mittlerweile für 2021 geplant, der kommerzielle Markteintritt soll im selben Jahr erfolgen. Bereits jetzt hat die New Glenn mehrere nationale und internationale Aufträge ergattern können. Neben dem Start von Satelliten plant Blue Origin auch die Entwicklung einer eigenen Raumkapsel für Touristenflüge in den Erdorbit. Darüber ist bisher (ausser der Absicht) noch kaum etwas bekannt.

Die Wahrnehmung von Blue Origin als „teures Hobby“ des derzeit reichsten Menchen der Welt wird sich in den nächsten Jahren also stark verändern. Durch die New Glenn wird Blue Origin zu einem ernsthaften Konkurrenten für SpaceX und insbesondere Arianespace werden. Dies wird aber auch sicherstellen, dass die technologische Innovation in diesem Bereich weitergeht. Auch für ULA brechen schwierige Zeiten an: selbst wenn die Vulcan ebenfalls zwei BE-4-Triebwerke auf ihrer ersten Stufe einsetzen soll, dürfte der zu erwartende Einstieg von Blue Origin in den Bereich der militärischen Raumfahrt den Konzern akut gefährden. Ob die Vulcan und die Ariane 6 in diesem veränderten Marktumfeld wirklich eine Chance haben, profitabel zu werden, bleibt abzuwarten.

Aber Blue Origins grösster Vorteil ist wohl, dass sie die Zeit und vor allem die Mittel haben, alles von Anfang an richtig zu machen – Gradatim Ferociter!

Was denkst du? Wer hat in diesem Rennen die Nase vorn, und hat Europa in diesem zukünftigen Umfeld überhaupt noch eine Chance? Oder ist Blue Origin einfach eine gewaltige Geldvernichtungsmaschine, die nochmals ein Jahrzehnt brauchen wird, um zu einer ernsthafen Konkurrenz zu werden? Schreib es in die Kommentare!

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