Der Sprung nach Andrajord

Künstlerische Darstellung eines fernen Planeten. (Quelle: ESO/L. Calçada/Nick Risinger)

Regen trommelte auf das Dach des Habitats. Regen? Irgendwo tief in Talias langsam erwachenden Gehirn formulierte sich diese Frage. Regen, auf einem Raumschiff? Doch es war eindeutig Regen – grosse, schwere Tropfen, die unablässig aufs Dach fielen, begleitet von – wie sie jetzt feststellte – dem Geräusch von fliessendem Wasser. Beide Geräusche weckten Erinnerungen. Wie sie in Regen und Sturm nach Hause lief, zwischen schwarzen Felsen, grünen Wiesen, und der Gischt des tosenden Ozeans. Damals, an der Küste, auf der Erde, lange vor ihrem zweiten Leben, sehr lange vor der Mission. Die Mission. Mit diesem Wort lichtete sich der diffuse Nebel in ihrem Kopf, sie öffnete die Augen. Das Habitat lag im Dunkeln, ein fahl-graues Licht fiel durch eines der vorderen Fenster. Sie erinnerte sich an die Zeit vor dem Abflug, als sie durch eines dieser Fenster auf die von Kratern zernarbte, beige-rötliche Oberfläche von Persephone hinunter geblickt hatte, versucht hatte, durch die Wolken und den Nebel hindurch die Siedlung auszumachen, in der Maido und die Kinder sein mussten. Damals, als sie Partnerin und Mutter war. Ein Leben das, wenn alles wie geplant verlaufen war, nun über tausend Jahrtausende zurück lag. Sie schob diesen Gedanken in seiner ganzen Ungeheuerlichkeit zur Seite. Sie musste sich jetzt auf das konzentrieren, was vor ihr lag.

Auch die anderen wachten langsam auf. Nicht alle hatten die Inkorporation so gut überstanden wie Talia. Das hatten sie so erwartet, doch niemand wusste im Vornherein, wen es treffen würde und wie stark. Landolt war aggressiv und wahnhaft – sie mussten sie mit vereinter Kraft sedieren, bevor sie sich selbst oder andere verletzen konnte. Ihren Körper legten sie sorgfältig zurück in den Tank. Ein Problem, das sie später lösen würden. Kanya litt unter Amnesie, einige andere zeigten nervöse Ticks oder litten unter Erschöpfung, doch den meisten ging es überraschend gut. Sie waren alle hier, alle zwanzig, hatten alle die Reise überlebt. Doch warum hatte Getty sie direkt auf der Oberfläche von Andrajord abgesetzt? Der Plan war immer gewesen, aus dem Orbit zuerst den besten Ort für eine Siedlung zu suchen. Irgend etwas musste schief gegangen sein. „Der Rest des Schiffs ist noch immer im Orbit“ verkündete Milavich, der es soeben gelungen war, eines der Pads wieder zum Leben zu erwecken, und die kurz darauf rief: „Ich kann keinen Kontakt herstellen!“ – „Die Aussenhülle des Habitats ist geschmolzen“ rief nun Paveh, die aus dem Fenster schaute. „Die Tür bringen wir so fürs Erste sicher nicht auf…“ Milavich schüttelte den Kopf. „Das würde ich ohnehin nicht empfehlen – die Atmosphäre da draussen enthält gut zehn mal so viel Kohlenmonoxid wie erwartet.“

***

Der auf der linken Seite nahm einen Schluck von seinem Bier, dann sagte er: „Die erste Episode war wirklich besser als erwartet. Dass sie es am Schluss aus dem Habitat rausgeschafft haben, kam dann doch überraschend. Die Kritiken waren ja sehr negativ, und dann das ganze Ethik-Geschwafel…“ – der rechts nickte dazu nur. Schliesslich meinte er: „Diese Talia fand ich faszinierend. Sie hat eine interessante Hintergrundgeschichte, die sie sehr geschickt eingewoben haben. Geboren im Einundzwanzigsten, ein aggressiver Krebs als Jugendliche – damals ein Todesurteil…“ – „Jaja, ich habs ja auch gesehen. Kryostase, dann von einer der letzten erfolgreichen Kryo-Rettungsaktionen zum Mars gebracht. Komplett synthetisch inkorporiert. Was das wohl gekostet hat… aber die Martis habens ja. Ich habe im Premiumbereich gehört, Talias Adoptiveltern waren Eloniten – kein Wunder sind sie später gleich mit dem ersten Transport weiter nach Persephone…“ – „…wo sie eine Familie gründete aber trotzdem beschloss, Teil der Gliese 710-Mission zu werden. Fünf Kinder liess sie zurück, pehko!“ Der rechts schüttelte den Kopf. Der links blickte jetzt kurz zu mir. Ich schaute schnell weg. Ein bisschen auffällig, ja. Ich musste besser aufpassen. Angestrengt blickte ich auf meinen Teller, bemühte mich aber, die beiden weiterhin im Bild zu behalten. Das hier war schliesslich genau das, wonach ich gesucht hatte. Etwas leiser fuhr der links einen Moment später fort: „Ich frage mich, ob sie wirklich genau so sind.“ – „Was meinst du?“ – „Na, die Originale. Talia, und die anderen. So, wie wir sie gerade gesehen haben – bloss, in Realität.“

Ich wusste natürlich ab dem ersten Satz, wovon sie sprachen. Das Programm hiess „Die Mission“ und wurde von einer Firma namens KuipOmniMedia produziert. Zahlende Kunden – von denen es hier draussen offenbar sehr viele gab – sollten darin künftig einmal pro Woche in einer mehrstündigen Episode lebensnah und immersiv miterleben, wie die Gliese 710-Mission dereinst ausgehen könnte. Aus beliebigen Perspektiven und unzähligen Extras gegen Aufpreis, wie man so hörte. Das Ganze basierte auf Kopien der zwanzig originalen Gedächtnis-Uploads der Gliese 710-Besatzung, die KuipOmniMedia über nicht gänzlich geklärte Wege erhalten hatte. Angeblich wurden die Kopien auf Persephone hergestellt, bevor lokale Gesetze dies ausdrücklich verboten, und durften danach nicht mehr gelöscht werden. Es gab aber auch ein Gerücht, dass eine Gruppe Söldner mit einem Fusions-Sprinter das Missions-Schiff eingeholt und die Kopien direkt von den Originalen abgezogen hätten – alles im Auftrag von KuipOmniMedia. Wie dem auch war, die Kopien – die natürlich allesamt dachten, sie seien die Originale auf der echten Mission – wurden in der Produktion präzise geplanten, simulierten Ereignissen und Bedrohungen ausgesetzt, alles zur Unterhaltung der Zuschauer. Natürlich war das ethisch abstossend, und auf den Inneren Welten des Systems undenkbar – aber hier draussen, an der Kuiperklippe? Ethik-Geschwafel, hatte es der links genannt. Gerade liess er sich über die optischen Qualitäten der ausschliesslich weiblichen Besatzung aus, da blickte er plötzlich wieder zu mir, schaute mich eindringlich an. „Hey, du da drüben“, rief er dann, „nimmst du uns etwa auf?“ Er stand auf…

***

„Hier bist du also!“ Arrowou schaltete das Pad aus und blickte in Richtung der Stimme. Glieses kupfernes Abendlicht erleuchtete den weiten, wolkenfreien Himmel und das breite Tal darunter. Im Wald, der sich nun bis zu den Bergen am Horizont erstreckte, waren die zahlreichen Lichter ihrer Siedlung zu sehen. Der Pendek ging bedächtig den Weg zur Bank hinauf, auf der sie sass. „Du hättest nicht weglaufen sollen“ rief er, etwas ausser Atem. „Die anderen Schüler haben das ganze Riti gegessen.“ Arrowou zuckte mit den Schultern. „Ich mag heute ohnehin kein Riti. Ich mag auch nicht ständig mit Myrat streiten.“ – „Ah, ja, das“, sagte der Pendek nachdenklich, setzte sich schliesslich neben sie auf die Bank, seufzte leicht. Er blickte hinaus über das Tal. „Einen schönen Platz hast du da gefunden.“ Dann wies er auf das Pad. „Was schaust du dir an?“ Sie flippte es wieder an, zeigte ihm das Standbild aus der Doku von der Kuiperklippe, das einen wütenden Klippner mit ausgestreckter Faust zeigte, irgendwo in einer schummrigen Bar. Der Pendek machte ein fragendes Gesicht. „Es ist eine Doku“, sagte Arrowou. „Aus dem alten System. Von vor dem Kontaktabbruch, wie es heisst.“ – „Ah, Mythen, und antike Helden-Sagen!“ Der Pendek kicherte. „Pass bloss auf, bei diesem alten Zeug weisst du nie, was echt ist und was gefälscht. Die Menschen im alten System konnten wirklich verrückte Dinge tun.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Worum geht es denn in dieser… Doku?“ – „Darum, wie sie damals die frühesten nicht-biologischen Menschen behandelt haben. Naja, zumindest, im äussersten Bereich des Systems, wenn ich das richtig verstanden habe. Es ist irgendwie alles so kompliziert.“ Der Pendek lachte. „Ja, Arrowou, das Leben im alten System war… kompliziert. Hunderte von besiedelten Welten, Milliarden von Menschen, zahlreiche gefährliche Konflikte… mit ein Grund, warum unsere Vorfahren hierher kamen.“

Arrowou dachte einen Moment nach. „Ich habe da eine Frage, Pendek“, sagte sie schliesslich. Er nickte ihr zu. „Nur zu, Mädchen“ – „…wer ist Talia?“ Der Pendek fuhr sich mit der Hand über den kahlen Kopf. „Ah, Talia. Wir werden die Besiedlung von Andrajord im Sommer behandeln. Aber da du mich jetzt direkt fragst, kann ich dir bereits heute ein bisschen etwas erzählen, ja?“ Arrowou nickte schnell. „Talia… war eine Erste. So nennen wir die allerersten Menschen auf Andrajord, jene, die aus dem alten System hierher gereist waren. Talia war… einige würden sagen, nahe an der Perfektion – ihr Körper war vollständig synthetisch codiert. Für uns ist das heute völlig undenkbar. Bei uns sind es höchstens noch ein paar Prozent des Körpers, und selbst die funktionieren kaum mehr wie ursprünglich vorgesehen. Wir haben hier weder das Wissen, noch die nötige Technologie, um synthetische Biologie zu erhalten oder gar herzustellen. Aber Talia und die anderen Ersten stammten von Persephone im alten System, einer viel fortgeschritteneren Welt, und mussten vollständig synthetisch sein. Nur so konnten sie die über tausend Jahrtausende lange Reise hierher überleben. Nach der Ankunft auf Andrajord trug jede der zwanzig Ersten zahlreiche Kinder aus, die mit mitgebrachten, natürlichen Spermien gezeugt wurden. Über dreissig Generationen ist die Bevölkerung des Planeten nun bereits gewachsen, während der Anteil an synthetischer Biologie immer weiter sank.“ Arrowou nickte, blickte hinunter ins Tal. „Ich frage mich jetzt gerade, was wohl aus ihr geworden ist.“ – „Aus Talia?“ – „Ja. Wenn sie doch so lange leben kann – ist sie dann vielleicht noch unter uns?“ Der Pendek lächelte. „Wir wissen es nicht, Arrowou. Wir wissen von einigen Ersten, die gestorben sind, aber von Talias Schicksal wissen wir nichts. Was denkst du?“

***

„Dann kommen wir jetzt zur dritten Prüfungsfrage. Herr Vieto, Sie haben als Vorbereitung für diese Frage ein fiktives Gespräch einer berühmten Person aus der frühen Andrajord-Periode mit einem Mentor verfasst. Sie haben dafür, ähm, die junge Arrowou gewählt. Zunächst einmal, warum sie?“ Vieto räusperte sich. Das war eine einfache Frage. „Nun, Examinator, sie ist eine offensichtliche Wahl – sie wird gemeinhin als jene Politikerin angesehen, die das kollaborative, demokratische und scientistische Gemeinwesen der frühen Andrajord-Siedlungen beendet und durch eine feudale, kompetitive und ritualistische Gesellschaft ersetzt hat, inklusive dynastischer Monarchie. Ihre Söhne und Töchter aus der Ehe mit Myrat teilten den nördlichen Kontinent unter sich auf, was bis heute politisch nachwirkt. Sie ist die Schlüsselfigur am Übergang zwischen den idealistischen Gründerjahren und dem Beginn einer Art Antike auf Andrajord.“ – „Dann würden Sie sagen, dass diese dramatischen Veränderungen hauptsächlich Arrowou zuzuschreiben sind?“ Vieto lächelte. Auch diese Frage hatte er so erwartet. Er war gut vorbereitet. „Da stellt sich wieder einmal die uralte Frage nach den Treibern der Geschichte: sind es gesellschaftliche Veränderungen, oder tatkräftige Einzelpersonen? Ich denke, auch in diesem Fall muss die Antwort lauten: Sowohl als auch. Arrowou wäre in einer anderen Zeit, mit einer anderen Vorgeschichte bestimmt nicht so weit gekommen – doch unter einer anderen Ratsvorsteherin hätten sich die Dinge damals durchaus auch anders entwickeln können. Das zeigt sich zum Beispiel in der südlichen Siedlung, in der das alte Siedler-Gemeinwesen unter einem offeneren Ratsvorsteher noch fast sechzig Jahre länger anhielt.“ Der Examinator nickte. Das lief ja wirklich gut hier, dachte Vieto. Jetzt noch ein paar weitere Fragen dieser Art, dann würde er endlich um Mert’s Hand anhalten dürfen.

„Ich habe noch eine ganz andere Frage zu Ihrer Geschichte, Herr Vieto“. Der Examinator sah auf seine Blätter, ordnete sie zu einem sauberen Stapel, legte sie zur Seite. Vieto blickte auf. „Ja bitte?“ – „Können Sie für mir etwas zur Historizität dieser Talia sagen, die da vorkommt?“ – „Sie meinen…“ – „Ich meine, eine Sternreisende, die den Tod überwunden hat und unsterblich ist, die dann aber irgendwann seltsamerweise verschwand… – ist sie nicht einfach eine mythische Figur?“ Vieto schluckte leer. „Nun, sicherlich gibt es mythische Elemente in ihrer Beschreibung. Aber mir scheint, im Kern muss die Geschichte doch stimmen…“ Der Examinator hob eine Braue an, blickte Vieto über den Rand seiner Brille direkt an. „Muss? Muss, Herr Vieto? Kein… kritisches Hinterfragen ihrerseits?“ – „Ich… ich meine, das Leben auf Andrajord hat keine Geschichte, die über die geschätzte Zeit der Landung vor etwa fünftausend Jahren hinausgeht, sicherlich muss es deshalb von ausserhalb…“ – „Ja, ja, ja, Herr Vieto, von ausserhalb gekommen sein, aus einem anderen Sternsystem. Soweit sind wir uns einig, zusammen mit dem Rest des Planeten, abzüglich einigen Idioten. Ich meine nun aber die präzisen Details der Talia-Story: warum soll sie mit einem Raumschiff gekommen sein, das über eine Million Jahre brauchte, um angeblich aus dem allernächsten Sternsystem hierher zu kommen, ein astronomischer Katzensprung von weniger als einem halben Lichtjahr, wenn wir doch heute selbst daran sind, eine Sonde zu bauen, die dieses System in ein paar Jahrzehnten erreichen kann? Vor fünftausend Jahren war die Distanz nicht viel anders als heute. Wozu, bitte, musste diese Talia für eine solche Reise nahezu unsterblich sein, wenn selbst wir heute nicht mehr weit davon entfernt sind, dass wir Menschen lange genug in Kryostase versetzen können, um sie zu ebenjenem Sternsystem zu schicken? Und was bitte soll synthetische Biologie sein? Das sind doch alles bloss Fieberträume einer gelangweilten Gesellschaft, die nur noch eine vage Erinnerung daran hat, zu was sie einst fähig war! Geschichten, Vieto, nicht Geschichte!“ Vieto blickte auf die Tischplatte vor sich. Diese astronomischen Fragen… die gingen ihm viel zu weit, und interessierten ihn auch nicht gross. Er wollte doch bloss Geschichtslehrer werden! Und dann Mert heiraten! Warum sollte er sich da mit Sterndistanzen auskennen müssen?

***

Sie öffnete die Augen. „Wo… wo bin ich? Ich hatte einen furchtbaren Traum… eine… Prüfung… ich war so… unglaublich inkompetent!“ Ihre Augen wanderten im Raum herum, blieben schliesslich an einem sanften Gesicht haften. „Und wer… wer bist du?“ Talia lachte leise. „Mein Name ist Talia. Du und ich, wir kennen uns, seit vielen tausend Jahren, und bald wirst du dich wieder daran erinnern, Kanya…“ – „Ja, ich… glaube, ich habe dich schon einmal gesehen.“ Sie setzte sich auf, blickte herum. „Wo sind wir? Habe ich das etwa schon einmal gefragt?“ – „Wir sind auf einem Raumschiff, Kanya. Wieder einmal. Du hast geschlafen, so tief, wie nur Syntheten schlafen können. Und wie jedes Mal, wenn du das tust, verlierst du danach für einige Zeit dein Gedächtnis. Aber keine Sorge, es kommt wieder zurück. So war es zumindest bisher jedes Mal.“ Kanya nickte. Selbst das… kam ihr bekannt vor, irgendwie. Seit tausenden von Jahren, hatte diese seltsame Frau gesagt, die ihr fremd und doch so vertraut war. „Wir sind bald da. Ich habe dich geweckt, damit du dein Gedächtnis wiedergewinnst, bevor die anderen aufwachen.“ Kanya befreite sich aus dem Tank, ging ein paar Schritte. Sie waren am Boden einer langen, zylinderförmigen Halle, die, abgesehen von ein paar gleissend hellen Lichtern rund um sie herum, in völliger Dunkelheit lag. An den Wänden waren unzählige Kryostase-Tanks auszumachen. „Sternsiedler“, sagte Talia, die ihrem Blick gefolgt war. „Wie schon vor tausenden von Jahren, nur diesmal in umgekehrter Richtung. Von Gliese 710 nach Sol, von Andrajord zurück zur… Erde. So, wie es schon immer geplant war, von Anfang an. Die Mission – erinnerst du dich an die Mission?“ Kanya krauste die Stirn. „Sol. Das… alte System?“ – „Das alte System. Das Ursprungssystem der Menschheit. Unsere alte Heimat, Kanya, der Ort, an dem wir beide geboren wurden. Das Sternsystem der Erde, des Mars…“ Ein metallischer Knall fuhr durch die Halle, gefolgt von einem Echo, das sich mehrfach wiederholte, überlagert wurde, zur Kakophonie anstieg, bis es dann langsam erstarb. Nach einiger Zeit der Stille sagte Talia schliesslich: „Einschlag. Einen Zentimeter gross, vielleicht. Keine Sorge, der Schild hält das aus.“ Kanya hatte keine Ahnung, wovon sie genau sprach, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass sie dieser Talia vertrauen konnte. Dass sie es schon sehr lange tat.

„Wo waren wir?“ – „Das alte System…“ – „Ja richtig. Nicht nur das System von Erde und Mars, sondern auch jenes von Persephone, einer kalten, erstaunlich marsähnlichen Welt weit draussen jenseits der Zone, die man die Kuiperklippe nannte. Eine Welt, auf der eine weise, extrem fortgeschrittene und soziale Gesellschaft früh erkannte, dass da ein politischer Sturm aufzog im alten System, dass die Menschheit eine Alternative brauchte, eine Chance, das System wieder zu besiedeln, falls es zur ganz grossen Katastrophe käme. Nach dem Verlust der Justine, einem frühen Drohnen-Schiff der Marsianer, das nach Proxima fliegen sollte, durch eine Kollision mit einem interstellaren Asteroiden hatte man die Idee der interstellaren Raumfahrt für lange Zeit aufgegeben. Doch dann bot sich da eine Chance, in Form eines Sterns, der über eine Million Jahre später sehr nahe an Sol vorbeifliegen würde. Er war damals weit genug von Sol entfernt, dass man ihn sehr langsam anfliegen konnte, langsam genug, um die Gefahr einer zerstörerischen Kollision unterwegs sehr klein zu machen. Der Stern würde dann ungewöhnlich nahe an Sol vorbeiziehen, weniger als ein Fünftel Lichtjahr, so dass selbst eine vergleichsweise primitive Zivilisation eine gute Chance hätte, die Distanz zurück mit einem einfachen Kryostase-Schiff zu überwinden. Ein Stern, der…“ – „Gliese… 710 hiess?“ Talia lachte. „Ganz genau, Kanya. Astronomie kommt bei dir zuverlässig jedes Mal zuerst zurück!“ – „Andrajord. Der bewohnbare Planet, der ihn umkreist, heisst Andrajord.“ – „So hat ihn auf jeden Fall Gerda Holmqvist, die ihn zusammen mit ihrem Team im Jahr 2027 der alten Zeitrechnung entdeckt hat, genannt.“ – „Auch dieser Name kommt mir sehr bekannt vor…“ Tilda grinste. „Ja, du hast ihre Dissertation betreut. Sie war deine Studentin, Kanya. Damals, am astronomischen Institut in Lund, Schweden, auf der Erde. Lange vor allem, vor Mars, vor Persephone, vor der Mission. Vor Andrajord.“ – „Und was haben wir nur die letzten Jahrtausende gemacht?“ – „Gelebt, Kanya, immer wieder, unter verschiedensten Identitäten. Die wir immer wieder durchleben, etwa in unseren Träumen… Wir haben uns nur ganz selten zu erkennen gegeben, und wenn wir uns verstecken mussten, haben wir geschlafen – für Jahrhunderte, wenn nötig, bis unsere Verfolger alle gestorben waren. Und natürlich haben wir alles daran gesetzt, auf dieses Raumschiff zu kommen. Um zu den allerersten zu gehören, die zurückkehren.“ – „Aber wozu?“ – „Um zu sehen, was nach über einer Million Jahre von der Menschheit übrig ist, Kanya – um vielleicht wieder ganz neu anzufangen. Und um es beim zweiten Mal besser zu machen.“

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2 Kommentare

  1. Vielleicht hast du Recht, und die Menschheit muss eine Multistellare Zivilisation sein, um unsterblich zu werden. Aber ich hoffe doch multiplanetar reicht auch aus.

    Hätte nicht gedacht, dass so bald ein anderes Stern uns so nah kommt, aber die Prognosen bei wiki sehen ähnlich aus.

    Wieder ziemlich gute SF. Die Idee alle Szenen in der nächsten Szene zu einem Rückblick zu machen hab ich so glaube noch nie gelesen.

    Falls du wieder Ideen hast, solltest du weiterschreiben. Danke für die Inspiration.

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