Das gewaltige Potential von metallischem Wasserstoff in der Raumfahrt

Metallischer Wasserstoff kommt natürlicherweise nur im Inneren von Gasplaneten vor - zum Beispiel hier, Saturn. Quelle: NASA.

Wasserstoff ist das leichteste Element im Universum. Es ist auch das häufigste im Universum insgesamt, im Sonnensystem, ja sogar in den Planeten des Sonnensystems, wenn man sie alle zusammen nimmt. Soweit, so bekannt, doch was viele nicht wissen: im Inneren der beiden Gasriesen Jupiter und Saturn kommt fast aller Wasserstoff in einem besonderen Aggregatzustand vor, den noch nie ein Mensch gesehen hat: metallischer Wasserstoff. Hunderte Erdmassen davon türmen sich im Inneren dieser Planeten über einem Kern aus Gestein und Eisen, überlagert von einer dicken Atmosphäre aus gasförmigem Wasserstoff. Beim metallischen Wasserstoff sind die Atome in einem regelmässigen Gitter angeordnet – dies ist nur bei extrem hohen Drucken von mehr als 450 Gigapascal (oder 4.5 Millionen Atmosphären) möglich, zumindest in der Theorie.

Bei Umgebungstemperatur- und -druck ist Wasserstoff stattdessen ein gasförmiges Molekül aus zwei Wasserstoff-Atomen. Erst unterhalb von 33 Kelvin wird er flüssig und kann so z.B. als Raketentreibstoff eingesetzt werden (so etwa früher beim Space Shuttle sowie heute der Delta-IV-Rakete der USA, der Ariane-5-Rakete der Europäer, oder der H-2-Rakete der Japaner). Allerdings hat flüssiger Wasserstoff eine sehr geringe Dichte von nur gerade 70 Gramm pro Liter. Zum Vergleich: Kerosin, das ebenfalls bei Raketen Verwendung findet (z.B. bei der russischen Sojus oder der amerikanischen Falcon 9) hat eine über zehn mal höhere Dichte (abhängig von der Temperatur). Entsprechend voluminös sind die mit Wasserstoff angetriebenen Raketen im Vergleich zu jenen, die mit Kerosin fliegen.

Warum kommt flüssiger Wasserstoff in der Raumfahrt denn überhaupt noch zum Einsatz? Wasserstoff macht den Nachteil der geringen Dichte dadurch wett, dass er zu einem deutlich höheren spezifischen Impuls des Raketentriebwerks führt. Der spezifische Impuls ist ein Mass dafür, wie effizient ein Raketentriebwerk (oder ein Flugzeugtriebwerk) seinen Treibstoff in Schub umsetzt, und hat die Einheit Sekunden. Während ein Kerosin-Triebwerk typischerweise einen spezifischen Impuls von ca. 330 s aufweist, kommt ein Wasserstoff-Triebwerk auf bis zu 450 s (Space Shuttle). Der spezifische Impuls kommt in der Ziolkovsky-Raketengleichung vor: delta-v = Isp * g0 * ln (m0 / mf). Hierbei ist delta-v die totale Geschwindigkeitsveränderung, Isp der spezifische Impuls, g0 die Schwerebeschleunigung (9.81 m/s2 auf der Erde), m0 die Startmasse der Rakete, mf die Leermasse der Rakete, also die Masse der Tanks, Triebwerke etc. einschliesslich der Nutzlast.

Nehmen wir als Beispiel eine einstufige Rakete, bei der die Leermasse 10% der Startmasse beträgt, z.B. Leermasse = 100 Tonnen (dies entspricht etwa der Zielvorgabe für SpaceX‘ Starship), Startmasse = 1000 Tonnen (m0 / mf ist also 10), d.h., Treibstoff = 900 Tonnen. Mit Kerosin (Isp = 330 s) beträgt die erreichte Geschwindigkeitsveränderung dann ca. 7.5 km/s, mit Wasserstoff (Isp = 450 s) jedoch ganze 10.1 km/s. Nur die zweite Rakete könnte in diesem Beispiel die Erdumlaufbahn erreichen (dafür sind effektiv ca. 9.5 km/s nötig; das theoretische Minimum sind ca. 8.7 km/s, doch müssen Verluste beim Start und während dem Aufstieg berücksichtigt werden). Wie sähe diese Rechnung aus, wenn wir nun statt normalem flüssigem Wasserstoff den exotischen metallischen Wasserstoff einsetzen könnten?

Das ist keine komplett illusorische Idee, trotz dem hohen Druck, der nötig ist, um metallischen Wasserstoff herzustellen. Es wird nämlich vermutet, dass metallischer Wasserstoff, einmal hergestellt, in einem sogenannt „metastabilen“ Zustand auch unter normalen Temperatur- und Druckbedingungen existieren kann. Erst wenn eine gewisse Aktivierungsenergie aufgewendet wird (der metallische Wasserstoff z.B. erhitzt wird), wandelt er sich in „normalen“, molekularen Wasserstoff um. Dabei wird eine gewaltige Energiemenge frei. Man schätzt deshalb, dass die Umwandlungsreaktion von metallischem zu gasförmigem Wasserstoff zu einem spezifischen Impuls von bis zu 1700 s führen sollte (merke: das ist ohne chemische Reaktion des Wasserstoffs mit Sauerstoff gerechnet – in der Erdatmosphäre würde der Wasserstoff wohl mit dem Sauerstoff reagieren, anderswo hinterlässt das Raumschiff einfach eine sich schnell ausbreitende Wasserstoffwolke)! Der Preis dafür sind allerdings extrem hohe Temperaturen von fast 6000 Kelvin in der Reaktionskammer, was kein heute bekanntes Material aushält. Fügt man der Mischung jedoch „normalen“ flüssigen Wasserstoff oder Wasser bei, sinken die Temperaturen auf realistischere Werte, was allerdings mit einem gewissen Effizienzverlust verbunden ist.

Setzt man die 1700 s in die Gleichung oben ein, könnte die Beispiel-Rakete ein delta-v von 38.4 km/s erreichen. Das ist bei weitem genug, um auf der Oberfläche von praktisch jedem Planeten oder Mond des Sonnensystems zu landen (zum Beispiel reicht es für einen Flug zum Titan und zurück zur Erde, sofern man die Atmosphären von Titan und Erde jeweils zum Abbremsen nutzt). Und das ist noch nicht alles: bei der Beispiel-Rakete oben liegt der Wasserstoff ja in flüssiger Form vor und hat deshalb eine geringe Dichte. Die Dichte von metallischem Wasserstoff ist aber etwa 12-13 mal höher. Die 900 Tonnen Treibstoff im Beispiel oben verteilen sich im molekularen Verhältnis (2 H2 : 1 O2), entsprechend einem Massenverhältnis (4 : 32 = 1 : 8), also 100 Tonnen flüssiges H2 und 800 Tonnen flüssiges O2 (LOX). Bei einer Dichte von 70 g/L für LH2 und 1100 g/L für LOX, entspricht dies einem totalen Tankvolumen von 1.4 Mio L + 0.7 Mio L = 2.1 Mio L. Metallischer Wasserstoff hat eine Dichte von ca. 900 g/L, womit wir nun bei gut 1900 Tonnen Treibstoff wären, 1000 Tonnen mehr als zuvor. Damit wird m0 / mf der Rakete fast doppelt so gross (sofern die Leermasse durch das zusätzliche Gewicht des Treibstoffs nicht steigt), und das verfügbare delta-v der Rakete beträgt nun fast 50 km/s. Und das mit einer einzigen Stufe, wohlgemerkt!

Metallischer Wasserstoff macht also für die Raumfahrt den Unterschied zwischen der eher komplizierten, unbefriedigenden Situation heute und einer Situation, in der im Prinzip alle Planeten und Monde des Sonnensystems mit einem einzigen Raumfahrzeug erreichbar sind – näher gelegene Welten wie Mond, Mars oder Ceres rücken zudem zeitlich näher an die Erde heran, da das grosse delta-v-Budget zum verkürzen der Reisezeit genutzt werden kann. Für den Flug zum Mars bleiben nach dem Erreichen der Fluchtgeschwindigkeit von den 50 km/s noch etwa 35 km/s. Wenn davon 5 km/s für die Landung auf dem Mars zur Verfügung stehen sollen, bleiben 30 km/s für eine höhere Reisegeschwindigkeit (die sich allerdings noch auf Beschleunigung und Abbremsung aufteilen). Damit liesse sich z.B. die Reisezeit zum Mars von 6 Monaten auf etwas über einen Monat verkürzen.

Bisher ist die Herstellung von metallischem Wasserstoff noch nicht zweifelsfrei gelungen: 2017 behauptete eine Gruppe von Wissenschaftlern in einem Artikel in der Fachzeitschrift Science, dass ihnen das geglückt sei. Der Übergang zum Metall fand bei einem Druck von zwischen 465 und 500 GPa statt. Die von dieser Gruppe hergestellte Probe metallischer Wasserstoff ging jedoch wenig später verloren, als die Diamanten, welche genutzt werden, um den enormen Druck aufrecht zu erhalten, zu Bruch gingen. Aus diesem und anderen Gründen war die Fachwelt damals skeptisch. Doch dieses Jahr gelang es dann angeblich einer zweiten Gruppe, den Übergang von Wasserstoff in die metallische Form zu beobachten – diesmal bei ca. 425 GPa. Wie es scheint, ist ein Durchbruch nur noch eine Frage der Zeit. Danach wird es auch nicht mehr lange dauern, bis auch die Frage beantwortet werden kann, ob metallischer Wasserstoff bei Umgebungstemperaturen und -drucken wirklich metastabil ist, wie theoretische Berechnungen nahelegen. Wenn ja, dann wäre das ein historischer Tag in der Entwicklung einer multiplanetaren Zivilisation.

Was meint ihr? Werden wir dereinst mit metallischem Wasserstoff das Sonnensystem bereisen?

2 Kommentare

  1. Diese im Labor hergestellten Proben dürften nur wenige Mikrogramm Masse gehabt haben (belehre mich, falls nötig, eines Besseren) – mit Drücken von mehreren Millionen bar Tonnen dieses Materials herzustellen dürfte extrem teuer werden… gibt es gegenwärtig überhaupt ausreichend große Kompressionsaggregate für solche Volumina?

    • Klar, momentan wäre das illusorisch. Aber wenn die Anwendung interessant genug ist, ergibt sich die industrielle Produktionsbasis schnell. Man denke z.B. an Computerchips, die auch hochkomplex und spezialisiert sind. Metallischer Wasserstoff hat noch viele weitere interessante Anwendungen, z.B. wird vermutet, dass es sich um einen Raumtemperatur-Supraleiter handelt, zudem wäre er für die Kernfusionsforschung interessant (v.a. metallisches Deuterium), und so weiter.

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