Chinas grosser Sprung im All?

China in der Nacht
China aus dem Weltraum (Quelle: NASA)

Die Volksrepublik China hat ein besatztes Weltraumprogram, das man erfolgreich nennen darf – denn bisher ist es bei Flügen der chinesischen Weltraumkapsel Shenzhou („Himmlisches Schiff“; eine stark weiterentwickelte Variante der russischen Sojus) zu keinen gravierenden Zwischenfällen gekommen. Die Kehrseite dieser Medaille ist allerdings, dass seit dem Flug von Yang Liwei im Jahr 2003 gerade mal fünf weitere besatzte Flüge stattgefunden haben: im Schnitt also einer pro drei Jahre. Elf chinesische Astronauten („Taikonauten“, wie man sie im Westen gerne nennt) flogen dabei insgesamt ins All. Doch seit 2016 hat kein besatzter Flug mehr stattgefunden – die längste Pause seit 2003. Wo bleibt Chinas lange angekündigter Sprung ins All?

Chinas Ansatz bei der Entwicklung der Weltraumtechnik könnte man als Gegenentwurf zum Ansatz der US-Weltraumfirma SpaceX sehen: statt „fly often, fail often“ (so oft wie möglich fliegen, so oft wie möglich scheitern – natürlich, um die Schwächen eines Designs zu identifizieren und auszumerzen) gilt in China: auf keinen Fall scheitern. Der Grund dafür ist klar: die besatzte Weltraumfahrt ist in erster Linie ein Prestige-Projekt für China. Es geht darum, der Welt zu zeigen, dass man in der obersten Technologie-Liga mitspielt. Das ist zwar auch in Russland und den USA (z.B. beim neuen Mondprogramm Artemis) der Fall – doch China ist als „junge“ Weltraumnation besonders bemüht darin, jede Mission perfekt durchzuführen.

Eine weitere, entscheidende Eigenheit der chinesischen Weltraumfahrt ist, dass sie einem genauen, vordefinierten Plan folgt, bei dem jedes neu eingeführte Element auf das letzte aufbaut. So war beim ersten Shenzhou-Flug nur ein Astronaut an Bord, dann waren es zwei, dann drei. Dann folgte die erste Frau und das erste Andocken an ein „Weltraumlabor“. Dieses Weltraumlabor, Tiangong („Himmlischer Palast“) genannt, ist wiederum der Prototyp für ein späteres Frachtschiff, der die geplante chinesische Raumstation mit Verbrauchsmaterialien versorgen soll. Zwei davon gab es bereits, beide sind mittlerweile wieder abgestürzt. Auch beim robotischen Mondprogramm gibt es diese strikte, logische Abfolge von immer ambitionierteren Missionen.

Der nächste geplante Schritt im besatzten Programm ist der Start des Kernmoduls der künftigen Raumstation. Doch für dieses Modul ist eine neue, grössere Rakete als die „Changzheng 4“ („Langer Marsch 4“; oft als CZ-4 abgekürzt) notwendig, als bisher für die Shenzhou und Tiangong-Starts verwendet wurde. Die „Changzheng 5“ (CZ-5) startete 2016 zum ersten Mal zu einem mehrheitlich erfolgreichen Testflug. Im Jahr darauf kam es beim zweiten Start aber zu einer Anomalie, der zum Verlust der Nutzlast führte. Erst nach über zwei Jahren Überarbeitung startete die neue Rakete am 27. Dezember 2019 zum dritten Mal, diesmal erfolgreich. Der vierte, fünfte und sechste Flug der CZ-5 sollen noch dieses Jahr folgen.

Die Verzögerungen bei den chinesischen Weltraumplänen sind also die direkte Folge der technischen Probleme mit der CZ-5, und der strikten Befolgung des vorgegebenen Plans. Nun, da das Problem mit der CZ-5 behoben ist, wird der grosse Sprung nicht mehr lange auf sich warten lassen. Die CZ-5B, eine Variante, die für Schwerlast-Transporte in den tiefen Erdorbit optimiert ist, soll noch dieses Jahr starten, voraussichtlich im April. Dabei wird sie aber noch nicht das („Tianhe“ genannte) Kernmodul der chinesischen Raumstation transportieren (man erinnere sich: nicht scheitern!), sondern den Prototypen eines experimentellen Raumfahrzeugs (es hat noch keinen Namen), mit dem chinesische Besatzungen künftig ins All starten sollen.

Dieses neue Raumfahrzeug, von dem man bisher noch nicht viel weiss, erinnert nicht mehr an die Sojus, sondern an die Apollo- und Orion-Kapseln der USA, inklusive Service-Modul. Beim ersten Flug soll die Kapsel auf eine hohe Geschwindigkeit beschleunigt werden, um den Wiedereintritt nach einem Mondflug zu simulieren. Dies kann man also ganz klar als Bestätigung der Pläne für eine Landung von chinesischen Astronauten auf dem Mond sehen. Auch die robotische Mondlande-Sonde Chang’e-5, die Mondgestein zur Erde zurück bringen soll und die noch dieses Jahr starten soll, ist für ihre zugedachte Aufgabe sehr gross geraten. Vermutlich, weil auch dieses Design nur ein Baustein ist, auf dem sich später ein Mondlander für eine Besatzung aufbauen lässt.

Für eine komplette Mondlandung ist die CZ-5 allerdings zu klein: vier Starts wären damit insgesamt nötig, um das neue chinesische Raumfahrzeug und einen vollgetankten Mondlander auf der Basis der Chang’e-5 zum Mond zu schicken (1. Mondlander, 2. separate Transferstufe für den Mondlander, 3. Raumfahrzeug, 4. separate Transferstufe fürs Raumfahrzeug). Die Entwicklung einer viel grösseren Rakete, der CZ-9, hat aber bereits begonnen – zumindest als Studie. Diese Monster-Rakete mit einer Nutzlast von 140 Tonnen in die Erdumlaufbahn entspricht in etwa dem SLS der NASA bzw. dem Starship von SpaceX, und könnte ab ca. 2030 das neue chinesische Raumfahrzeug zusammen mit einem Mondlander in einem einzigen Flug zum Mond (und zurück!) bringen.

Damit hätten die Chinesen den bisherigen „Peak“ der amerikanischen Weltraumfahrt, die Mondlandung von 1969 wiederholt, bzw., hätten aus ihrer Sicht wohl endlich mit den USA gleichgezogen. Angesichts der schnellen Entwicklung der Weltraumtechnik in den USA, insbesondere was die Wiederverwendung von Raketenstufen angeht (nicht nur bei SpaceX!), stellt sich aber schon auch die Frage, ob der bevorstehende „grosse Sprung“ Chinas wirklich in die richtige Richtung geht. Für China ist nichts gewonnen, wenn es gut 60 Jahre nach den USA eine teure, gigantische Wegwerf-Mondrakete reproduziert hat. Denn dann wird es China so ergehen wie den USA: ausser für ein paar teure Prestige-Flüge zur Mondoberfläche ist die Rakete kaum zu gebrauchen.

Doch noch ist es nicht zu spät: die CZ-9 etwa könnte von Anfang an auf komplette Wiederverwendung ausgelegt werden. Je grösser die Rakete ist, desto einfacher ist (erstaunlicherweise) deren Wiederverwendung, da bei grösseren Raketen die zusätzliche Masse für die Wiederverwendung relativ gesehen immer weniger ins Gewicht fällt. Gerade wenn das Starship von SpaceX in den nächsten paar Jahren erste erfolgreiche Flüge absolviert (ein erster suborbitaler Start noch dieses Jahr?), kann ich mir gut vorstellen, dass China eine mutige Kurskorrektur vornimmt und versucht, aufzuholen – sich dabei aber nicht mehr an 1969 orientiert, sondern an 2020.

Was denkst du? Ist das chinesische Weltraumprogramm zu konservativ für eine baldige Kurskorrektur? Oder haben wir bald zwei „Starships“? Schreib es in die Kommentare!

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